Health Impact Assessment (HIA) / Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA) (2024)

Zitierhinweis: Linden, S. & Töppich, J. (2021). Health Impact Assessment (HIA) / Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA). In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i064-2.0

Fast jedes Politikfeld hat Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung. Ob Arbeit, Bildung, Ernährung, Landwirtschaft, Stadtplanung, Verkehr oder Wohnungsbau etc. – überall wird über Gesundheit (mit-)entschieden, ohne dass dies den beteiligten Akteurinnen und Akteuren in vollem Umfang bewusst sein muss. Ein Health Impact Assessment (HIA) kann in einem interdisziplinären Ansatz mögliche positive und negative gesundheitliche Konsequenzen von Politik, Programmen oder Projekten systematisch analysieren und bewerten. Dadurch gewonnene evidenzbasierte Empfehlungen können in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, mit dem Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und zu fördern.

Determinanten der Gesundheit, Health in all Policies, Gesundheitliche Chancengleichheit, gesundheitliche Wirkungsbilanzen, Umwelt und Gesundheit

Praxisbeispiel: Einführung eines Schnellbussystems

Als Beispiel eines HIA wird im Folgenden die Einführung eines „Streetcar“-Schnellbussystems in North Staffordshire, UK, beschrieben (Vohra u. a. 2009, Übersetzung durch die Verfasserin).

Screening/Analyse der Ausgangssituation: Der geplante Schnellbus ist ein Element einer nachhaltigen Verkehrsentwicklungsstrategie der Region North Staffordshire. Gegenstand des HIA ist die Nord-Süd-Verbindung, die insbesondere von Berufstätigen mit einem Bedarf an schnellen Verbindungen genutzt werden soll. Es werden ca. 40.000 wöchentliche Fahrgäste erwartet. Darüber hinaus soll die Busverbindung auch von den Bewohnergruppen genutzt werden, die über kein eigenes Fahrzeug verfügen.

Gesundheit und (Individual-)Verkehr sind eng miteinander verknüpft. Dies betrifft die positiven Auswirkungen wie Zugang zum Arbeitsplatz, zu Freizeit- und Versorgungseinrichtungen sowie die größeren Möglichkeiten für soziale Kontakte. Die Abhängigkeit vom Auto hat aber auch vielfältige negative Gesundheitseffekte; dazu gehören z. B. Bewegungsmangel, Verkehrsunfallrisiko, Umweltbelastungen, räumliche Isolierung durch Verkehrswege sowie spezifische Einschränkungen für Menschen mit Behinderungen, für ältere Menschen, Personen mit geringem Einkommen sowie Kinder und Jugendliche.

Die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs – verbunden mit Fuß- oder Fahrradwegen – bietet die Chance, den Anteil an physischer Aktivität im Alltag dauerhaft zu erhöhen.

Scoping/Abgrenzung des inhaltlichen und organisatorischen Rahmens: Das HIA untersuchte die möglichen positiven und negativen gesundheitlichen Effekte der Schnellbuslinie sowie Möglichkeiten, positive Effekte zu verstärken und ggf. negative Auswirkungen zu mildern. Der Untersuchungsbereich umfasste die Route des geplanten Schnellbusses.

Analyse des Vorhabens: Folgende Gesundheitsdeterminanten waren Gegenstand des HIA: übertragbare Infektionen, nicht übertragbare Erkrankungen einschließlich der Auswirkungen auf die Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung sowie Lärmemissionen, Unfälle psychische Gesundheit und Wohlbefinden, Beschäftigung und Wirtschaft, Wohnungsbau, Transport und Vernetzung, Lernen und Ausbildung, Kriminalität und Sicherheit, Gesundheit und Sozialwesen, Einkaufsmöglichkeiten, Sozialkapital und Gemeinschaftsgefühl, Kultur und Freizeit, Lebensstil und tägliche Routinen, Energie und Abfall, räumliche Entwicklung.

Raum- und Bevölkerungsanalyse: In die Betrachtung einbezogen wurden die Wohnbevölkerung an oder nahe der geplanten Busroute, ebenso die weiter entfernt lebenden Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Besucherinnen und Besucher der Region. Dabei wurden sowohl aktuelle Busnutzende als auch Nichtnutzende einbezogen. Untersucht wurden zudem die möglichen Auswirkungen des Schnellbussystems auf folgenden Teilgruppen: ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Frauen, Kinder und Jugendliche, Angehörige von ethnischen Minderheiten sowie Personen mit niedrigem Einkommen bzw. ohne Beschäftigung. Die Bevölkerungsgesundheit ist im Untersuchungsgebiet im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung unterdurchschnittlich.

Qualitative und quantitative Datensammlung: Es wurden vorhandene Daten und Informationen genutzt und Diskussionen mit Personen geführt, die an der Entwicklung des Vorhabens beteiligt waren. Eine Beteiligung der betroffenen Bevölkerung hatte in einem früheren Planungsstadium bereits stattgefunden und wurde im Rahmen des HIA nicht mehr vorgenommen.

Folgenabschätzung und -bewertung: Folgende Auswirkungen auf gesundheitliche Aspekte wurden laut HIA durch die Projektrealisation für möglich gehalten: Veränderung der physischen Aktivitäten, des Zugangs zu Versorgungs- und Serviceeinrichtungen, der Emissionen und Luftverschmutzung, der Verletzungen und tödlichen Unfälle, der Lärmbelastung, der Sicherheit und des Sicherheitsgefühls, der Vernetzung innerhalb der Ortsteile, der sozialen Zugehörigkeit sowie der sozio-ökonomischen Gleichheit bzw. Ungleichheit. Die zunehmende Busnutzung kann wegen der räumlichen Nähe zu den anderen Passagieren auch das Risiko der Verbreitung einer Influenza und anderer infektiöser Erkrankungen erhöhen. Dies ist jedoch von mehreren Faktoren abhängig, wie z. B. die Dauer der Nutzung sowie der angewendeten Hygienepraktiken.

Priorisierung und Handlungsempfehlungen: Nach den Ergebnissen des HIA wurden für die Einführung des Schnellbussystems überwiegend positive Auswirkungen auf die Gesundheit angenommen. Empfohlen wurde, diese Auswirkungen zu verstärken oder zu unterstützen, da nur wenig Bedarf zur Reduktion schädlicher Auswirkungen gegeben sei. Es wurde eine Begrünung der Busstrecke empfohlen, um die Fußwege attraktiver zu gestalten. Dabei sollten an Haltestellen und Kreuzungen freie Sichtbeziehungen geschaffen werden, um die Sicherheit der Fahrgäste und Fußgänger zu gewährleisten. Zur Emissionsreduktion (Lärm und Abgas) wurde der Einsatz von Elektrobussen bzw. mindestens Hybridfahrzeugen empfohlen. Die Busse sollten mit Rampen versehen sein, um den Zugang mit Kinderwagen oder Rollstühlen zu erleichtern. Es sollte mindestens Platz für zwei Kinderwagen sein. Die Straßenraumgestaltung sollte die Bedürfnisse von zu Fuß Gehenden sowie von Rad Fahrenden ausreichend berücksichtigen. Die Berufspendler und -pendlerinnen sollten zur Nutzung des Schnellbusses ermutigt werden. Ein Teil des Marketingbudgets sollte dazu verwendet werden, Bewegungsförderungsprogramme mit der Busnutzung zu verknüpfen. Negative Auswirkungen seien zu erwarten, wenn die Ausgestaltung des Angebots nicht die Bedürfnisse der unterschiedlichen Nutzergruppen berücksichtigt, also z. B. kein behindertengerechter Zugang zum Bus ermöglicht würde.

Abschlussbericht: Insgesamt wurden von der Einführung des Schnellbussystems positive und langfristige gesundheitliche Effekte für die Nutzenden erwartet, die durch ergänzende Maßnahmen verstärkt werden könnten. Das HIA war in seiner Aussagekraft etwas eingeschränkt, da Teilinformationen zu den Nutzergruppen fehlten, etwa soziodemografische Daten sowie Informationen zu den zurückgelegten Fußwegen von der Wohnung zum Bus bzw. von der Haltestelle zum Zielort. Darüber hinaus fehlten Informationen zur generellen Bewertung des Angebots durch die Nutzenden. Eine Erhebung solcher Daten ist schwierig und kostenintensiv und unterblieben deshalb.

Monitoring/Evaluation: Es sollte eine Befragung der Busnutzenden im Abstand von einem oder zwei Jahren erfolgen, um die gesundheitlichen Effekte der Einführung des Bussystems untersuchen zu können.

Kritische Würdigung des HIA-Nutzens für die Gesundheitsförderung

HIA oder Gesundheitsfolgenabschätzung ist ein wichtiges Instrument für Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung. HIA fördert gesundheitliche Chancengleichheit, Nachhaltigkeit sowie soziale und Umweltgerechtigkeit. Durch den multidisziplinären Ansatz und die Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden bei HIA werden Entscheidungen im Hinblick auf Gesundheit verbessert und die Partizipation bei Planungsprozessen und vergleichbaren öffentlichen Entscheidungen gestärkt. Nicht zuletzt wird durch HIA deutlich, dass Gesundheit mehr ist als gesundheitliche Versorgung.

Beispiele für HIA in Deutschland

Politik, Strategie, Plan, Projekt

Typ

Fundstelle des Berichts

Europäische Beschäftigungsstrategie in Deutschland

Strategie

https://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.463.744&rep=rep1&type=pdf (Zugriff am 28.02.2021)

Gesundheitseffekte von Verkehrslärm bei Kindern

Datengrundlage für Politik

www.publichealth.ie/files/file/hiaconference/parallel/2.1.3OdileMakel.pdf (Zugriff am 28.02.2021)

Gemeinsamer Flächennutzungsplan

Plan

Volmer, M., Welteke, R. & Fehr, R. (2010). Berücksichtigung des Schutzgutes „Menschliche Gesundheit“ im Rahmen der Aufstellung des „Regionalen Flächennutzungsplans der Planungsgemeinschaft Städteregion Ruhr“. UVP-report Heft 1+2, S. 54–60

Tabelle 1: Beispiele HIA in Deutschland, gekürzt und übersetzt aus Fehr, R. & Mekel, O. (2013), S. 159f

Erfahrungen mit Gesundheitsfolgenabschätzungen liegen seit dem Beginn der 1990er Jahre in Deutschland vor. Dennoch ist das mit HIA verbundene Potenzial für Gesundheitsförderung in Deutschland bislang nicht ausgeschöpft. Gesundheitsfolgenabschätzung bildet die Grundidee von Health in all Policies und verdient insoweit einen zentralen Platz im Public-Health-Werkzeugkasten (Fehr & Mekel 2013; Mekel 2020).

Literatur:

Abrahams, D., Pennington, A., Scott-Samuel, A., Doyle, C., Metcalfe, O., den Broeder, L., Haigh, F., Mekel, O. & Fehr, R. (2004). EPHIA – European Policy Health Impact AssessmentGesundheitsverträglichkeit Europäischer Politikentscheidungen – Empfehlungen zum Vorgehen. Luxemburg: Europäische Commission – Directorate Geenral for Health and Consumer Protection. Zugriff am 16.01.2021 unter https://ec.europa.eu/health/ph_projects/2001/monitoring/fp_monitoring_2001_a6_frep_11_de.pdf.
Amegah, T., Amort, F., Antes, G., Haas, S., Knaller, C., Peböck, M., Reif, M., Spath-Dreyer, I., Sprenger, M., Strapatsas, M.,Türscherl, E., Vyslouzil M. & Wolschlager, V. (2013): Gesundheitsfolgenabschätzung. Leitfaden für die Praxis. Herausgeber Bundesministerium für Gesundheit 2013. Wien. Zugriff am 16.01.2021 unter https://hiap.goeg.at/sites/gfa.goeg.at/files/inline-files/GFA-Leitfaden_Publikation_3.pdf.
Fehr, R. & Mekel, O. (2013). Health Impact Assessment in Germany. In: Klemm, J. (Hrsg.) (2013). Health Impact Assessment. Past achievement, Current understanding, and future progress. Oxford University Press, UK
Haigh, F., Mekel, O., Fehr, R. & Welteke, R. (2004) Pilot health impact assessment of the European Employment Strategy in Germany 2004. Zugriff am 28.02.2021 unter www.liverpool.ac.uk/media/livacuk/iphs/researchgroups/impact/HIA_of_the_EES__Germany.pdf
IHP – Institute of Public Health Ireland (Hrsg.) (2009). Health Impact Assessment Guidance 2009. Zugriff am 16.01.2021 unter https://publichealth.ie/hia-resources.
Mekel, O., Sierig, S. & Claßen, T. (2007) Road traffic noise induced health effects on children – Feasibility study on quantifying the health impacts. 8th International HIA Conference, Dublin 2007. Zugriff am 28.02.2021 unter www.publichealth.ie/files/file/hiaconference/parallel/2.1.3OdileMakel.pdf
Mekel, O. (2020). Gesundheitsfolgenabschätzung. In: Böhm, K., Bräunling, S., Geene, R. & Köckler, H. (Hrsg.). Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Springer VS, Wiesbaden, S. 377–386.
Vohra, S., Chilaka, M., Ball, J. & Amo­Danso G. (2009). North Staffordshire bus rapid transportscheme health impact assessment. Zugriff am 16.01.2021 unter https://usir.salford.ac.uk/id/eprint/19005/1/StreetcarBusRapidTransportSchemeHIAFinalReport.pdf.
Volmer, M., Welteke, R. & Fehr, R. (2010). Berücksichtigung des Schutzgutes „Menschliche Gesundheit“ im Rahmen der Aufstellung des „Regionalen Flächennutzungsplans der Planungsgemeinschaft Städteregion Ruhr“. UVP-report Heft 1+2, S. 54–60
WHO – European Centre for Health Policy (1999). Health impact assessment: main concepts and suggeted approach. Gothenburg consensus paper. Brussels: European Centre for Health Policy, Zugriff am 16.01.2021 unter: www.healthedpartners.org/ceu/hia/hia01/01_02_gothenburg_paper_on_hia_1999.pdf.

Weiterführende Quellen:

Fehr, R. (2010) Gesundheitliche Wirkungsbilanzen (Health Impact Assessment) als Beitrag zur nachhaltigen Gesundheitsförderung, in: Göpel, E. (Herausgeber), Nachhaltige Gesundheitsförderung, Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2010, 131–160
Klemm, J. (Hrsg.) (2013). Health Impact Assessment. Past achievement, Current understanding, and future progress. Oxford University Press, UK
Kobusch, A. B., Fehr, R. & Serwe, H. J. (Hrsg.) (1997). Gesundheitsverträglichkeitsprüfung. Grundlagen – Konzepte – Praxiserfahrungen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
WHO Regional office for Europe (2005). A toolkit for cities. Zugriff am 16.01.2021 unter www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0007/101500/HIA_Toolkit_1.pdf.
WHO (2003). Special Issue on HIA. Bulletin of the World Health Organisation, 81 (6). Zugriff am 16.01.2021 unter www.who.int/bulletin/volumes/81/6/en.

Internetadressen:

Gesundheit Österreich GmbH (GÖG): https://hiap.goeg.at/GFA
International Association for Impact Assessment: https://hiaconnect.edu.au
The Health Impact Project: www.pewtrusts.org/en/projects/health-impact-project
WHO: Health impact assessment:www.who.int/health-topics/health-impact-assessment#tab=tab_1

Verweise:

Determinanten der Gesundheit, Evaluation

Health Impact Assessment (HIA) / Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA) (2024)

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